Der Sichelspeer der Hōzōinryū (10)

Technik Fußarbeit Haltung Daietsugen

Von Kagita Chūbee, 20. Sōke der Hōzōinryū

Die Techniken des Hōzōinryū Sōjutsus

Wie ich bereits in der März-Folge geschrieben habe, ist das charakteristische Merkmal des Hōzōinryū Sōjutsus der Einsatz eines Kamayari1 genannten Speers mit kreuzförmiger Klinge, der sich vom üblichen Suyari2 unterscheidet. Dank der kreuzförmigen Klinge kan man mit dem Sichelspeer nicht nur stechen, sondern er lässt sich vielfältig einsetzen, um den Speer eines Gegners unter anderem schneidend herunterzuschlagen3, rotierend herutnerzuschlagen4 oder oder an ihm entlang zu rutschen5. Die Hōzōinryū entwickelte sich zur größten Speer-Schule in Japan, weil die Effektivität dieser Techiken erkannt wurde. In dieser Folge nun möchte ich etwas konkreter über diese Techniken schreiben.

Den Schülern unseres Stils sage ich ständig, lernt den Speer nicht mit dem Kopf, lernt ihn mit dem Körper. Denn ich glaube, dass man die Techniken des Sōjutsus erst dann beherrscht, wenn sie einem in Fleisch und Blut übergegangen sind. Deshalb fällt es mir schwer, sie hier nur mit Wörtern zu erklären, ich werde es aber dennoch versuchen.

Grundhaltung: Yarigamae.Zuerst wäre da die Haltung6. Man stellt sich dem Gegner in Linksauslage gegenüber, die linke Schulter zeigt also nach vorne und postiert die Füße etwa einen Meter auseinander. Die rechte Hand greift das Ende des Speerschafts (Ishizuki)7, die linke etwa einen Meter weiter vorne, so dass der Speer horizontal zu liegen kommt. Die Hüfte wird so tief abgesenkt wie beim Shiko8 im Sumō. Der Rücken wird dabei aufrecht gehalten. Das Gesicht wird dem Gegner frontal zugewandt, dazu wird der Kopf um 90 Grad nach links gedreht, so dass das Kinn über der linken Schulter zu liegen kommt. Für Anfänger ist diese Haltung extrem unangenehm, und besonders die Beine schmerzen sehr. Doch wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, begreift man, dass diese Haltung optimal ist, um einen langen schweren Speer zu handhaben.

Als nächstes käme die Fußarbeit. Hier gibt es Okuriashi und Ayumiashi.

Beim Okuriashi bewegt man sich vorwärts, indem man zuerst den linken Fuß 10 cm auf den Gegner zu bewegt, um dann den rechten Fuß ebenfalls 10 cm nachzuziehen. Beim Rückwärtsgehen ist der Bewegungsablauf umgekehrt.

Beim Ayumiashi bewegt man sich vorwärts, indem man den rechten Fuß vor die Zehenspitzen des linken setzt, um dann den linken Fuß wieder etwa einen Meter nach vorne zu setzen. Beim Rückwärtsgehen werden zuerst die Zehen des linken Fußes rechts neben die Ferse des rechten Fußes gesetzt und dann der rechte Fuß wiederum nach rechts bewegt. Wichtig dabei ist, dass die Hüfte sich weder auf und ab bewegt noch hin und her dreht.

Kommen wir nun zum Hikiotoshi9. Hierbei schlägt man den zu Maemen10 stechenden Suyari mit der rechten Sichel des Kamayaris ziehend zu Boden. Diese Technik ist nur mit einem Kamayari möglich. Der gegnerische Speer wird dabei nicht mit der Sichel nach unten gedrückt, sondern mit einer ziehenden Bewegung als würde man den Speerschaft durchschneiden wollen.

Beim Makiotoshi11 pariert der Kamayari einen Stich des Suyaris zu seinem Uramen (die Gegend des Linken Ohrs), indem er seinen Speer mit beiden Händen nach oben bewegt. Dieser Block heißt Kanmuriuke12, weil es so aussieht, als würde man sich den Speer auf den Kopf setzen. Wenn man den Suyari so pariert hat, schlägt man ihn als nächstes zu Boden, als würde man ihn mit der Stelle, wo die Sichel des Kamayaris dessen Schaft kreuzt, umwickeln bzw. verdrehen. Auch dies ist eine Technik, die nur mit einem Kamayari möglich ist.

Beim Surikomi13 rutscht man, wenn der Suyari sticht, mit der rechten Sichel an dessen Schaft entlang zur linken Hand des Gegners, um deren Handgelenk zu durchtrennen. Es gibt auch Techiken, bei denen hierfür die linke Sichel eingesetzt wird.

Beim Egaeshi14 versucht der Suyari, den Kamayari nach oben zu schleudern. Diesen Impuls nutzt der Kamayari aus, um auf den Gegner zuzuspringen, wobei er seinen Speer umdreht, um dann mit dem Ishizuki zu dessen Kehle zu stoßen.

Eine weiter Besonderheit des Hōzōinryū Sōjutsu ist der Umstand, dass es nur wenige Techniken gibt, die einen Gegner tödlich verwunden oder ihm den Fangstoß geben. Hingegen gibt es viele Techniken, die einen Angriff des Gegners stoppen, ihm seine Angriffslust nehmen und ihn nur dann leicht verletzen, wenn es gar nicht anders geht. Deshalb ist das Speerfechten der Hōzōinryū meiner Meinung nach eine friedliche Kampfkunst.

Daietsugen, geschrieben vom 20. Sōke.Als tiefster und wichtigster Kern ist im Hōzōinryū Sōjutsu das Prinzip Daietsugen15 überliefert. Ob nun in der Konfrontation mit einem Gegner oder im alltäglichen Training, man soll sein Gegenüber nicht grimmig anstarren, sondern sich um Daietsugen bemühen, also um einen freudestrahlenden Blick. Dahinter steckt der Gedanke, dass wenn man die Kraft aus dem Blick nimmt, sich auch die Schultern entspannen und man ganz automatisch eine natürliche Haltung einnimmt, was dazu führt, dass Geist wie Körper frei und offen werden. Diese Lehre gilt nicht nur für das Hōzōinryū Sōjutsu, sondern für jegliche Kampfkunst, ja, sie ist selbst für das Leben in der heutigen Gesellschaft nützlich.

(Zuerst erschienen im Nara-Stadtmagazin Ubusuna am 05.10.2009)

Anmerkungen:
1. Sichelspeer, vollständige Bezeichnung: Jūmonji Kamayari, kreuzförmiger Sichelspeer.
2. Einfacher Speer bzw. Speer mit einfacher, gerader Klinge.
3. Kiriotoshi/Hikiotoshi.
4. Makiotoshi.
5. Surikomi.
6. Kamae.
7. Im Falle des Kamayaris, der Suyari wird etwa 30 cm weiter vorne gegriffen.
8. Das zeremonielle Aufstampfen vor Beginn eines Kampfes.
9. Das ziehende Herunterschlagen.
10. Gesicht.
11. Rotierendes bzw. wickelndes Herunterschlagen.
12. Wörtlich Kronen-Block.
13. Etwa: reibend in den Gegner gehen.
14. Umgedrehter Schaft.
15. Große freudestrahlende Augen.

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